50 km/h im Schnitt, schneller als der rauschende Fluss neben uns, rasen wir ins Tal. Da, links! Ran ans Hinterrad, Puls bei 180, egal, der Rausch der Geschwindigkeit hat mich gepackt, die Beine fühlen sich super an. 6 km/h, ich muss aufpassen, dass ich nicht umfalle, wann kommt denn endlich die Passhöhe? Ich gehe aus dem Sattel, versuche die nächste Serpentine mit Schwung zu nehmen und setze mich wieder hin, Puls bei 150, aus den Beinen kommt heute nichts mehr, ich sehne mich nach der Abfahrt ins Ziel.
Zwischen diesen beiden Momenten liegen knapp 9 Stunden auf der Strecke meines ersten Ötztaler Radmarathons. Ein Tag, der sich anfühlt wie drei. Zwischen angespanntem Warten auf den Startschuss, bis zur glücklichen Erschöpftheit im Ziel liegen 227 km und knapp 5.500 Höhenmeter auf für den restlichen Verkehr gesperrten Straßen in den Alpen, ein einmaliges Erlebnis.
Die gute Stimmung und die Aufregung verleiten mich natürlich gleich dazu, jedes schnellere Hinterrad mitzunehmen, was sich anbietet. Bis runter nach Ötz brauchen wir für die 30 km knapp 37 Minuten. Im Kühtai, dem ersten Pass des Tages, ist erst mal Stau. Wohin man blickt, die Straße ist vollgepackt mit Radfahrern. Das Kühtai bin ich, im Nachhinein betrachtet, viel zu schnell angegangen, motiviert von allen Fahrradfahrern links und rechts neben mir. Mit der Nahrungsaufnahme hingegen lag ich genau im Plan, wenn nicht sogar über dem Plan. Noch ein Riegel, noch ein Gel. Mehr ist mehr … oben auf der Kuppe war eine Bombenstimmung. Kurz angehalten, Trinkflaschen aufgefüllt, Windjacke an und ab ging es in die rasante Abfahrt. Obwohl ich da schon fast 90 Kilometer pro Stunde auf der Uhr hatte, schossen trotzdem noch links und rechts motivierte Fahrradfahrer an mir vorbei. Das kann auch böse ausgehen, wie mir eine Gruppe, die sich um einen am Boden liegenden Radfahrer gesammelt hatte, zeigte. Unten im Tal galt es, eine gute Gruppe zu finden, sodass ich ein ums andere Mal Lücken schließen musste. Auch in Innsbruck selbst war eine Bombenstimmung und es galt in den Kurven den Ziehharmonika-Effekt in der Gruppe auszugleichen.
Den Brenner halten manche nicht wirklich für einen Berg. Am Anfang etwas steiler, in der Mitte jedoch relativ flach. So war auch hier bei ausgeprägtem Gegenwind das Fahren in der Gruppe angesagt. An der Einfahrt zum Jaufenpass ging es mir noch relativ gut. Noch schnell ein Gel eingeworfen, ein wenig an der Trinkflasche genippt und weiter ging es. Nach zehn bis 20 Minuten merkte ich aber deutlich, dass ich langsam ans Limit kam. Wir waren jetzt bei circa 5 1⁄5 Stunden Renndauer und mehr –muss ich gestehen –, als ich das im Training auch nur ein einziges Mal gefahren bin. Das nächste Gel ging schon nicht mehr so einfach runter und dann zeigte sich auch gleich, dass ich das mit der Nahrungsaufnahme nun besser sein lassen sollte, denn ich merkte, dass mein Magen nun deutlich machte, was er von dem ganzen süßen Zeug hielt.
So ging es auf Sparflamme den Rest des Jaufenpass hoch. Oben angekommen, war ich schon etwas im Eimer. Laugenbrötchen waren meine Rettung. Die Abfahrt vom Jaufenpast ist wirklich sehr rasant und macht ohne Autos und Gegenverkehr einfach tierisch Spaß. Im Tal geht es kaum einen Meter flach, dann richtet sich schon das schier unüberwindbare Timmelsjoch vor einem auf. Auf 30 Kilometern und über 1900 Höhenmetern geht das Timmelsjoch bis auf 2400 Meter hoch. Hier zeigt sich, ob man noch Reserven und Energie im Tank hat. Alle Radfahrenden um mich rum waren nur noch mit sich selbst beschäftigt. Kaum jemand wechselte noch ein Wort. Es fühlte sich eher an wie eine Gruppenmeditation am Berg.
Das Timmelsjoch ist auch wirklich konstant steil. Gelegentlich gibt es kurze Flachstücke, die ich dann wirklich nur noch gerollt bin. An den Stationen gab es wieder Laugenbrötchen und einen Schluck Cola. Weiter ging es. Ich hatte das Gefühl, wirklich nur noch mit dem Reservetank unterwegs zu sein und quälte mich Kehre für Kehre den Berg hinauf. Für die Auffahrt zum Timmelsjoch brauchte ich über zwei Stunden. Angesichts der eigentlich nur noch wenigen übrigen Kilometer war das doch sehr ernüchternd. Oben angekommen bietet sich einem eine beeindruckende mondartige Steinkulisse.
Wer denkt, dass man nun fast schon im Ziel sein wird, der irrt. Nach einer kurzen Abfahrt geht es noch mal einen knapp drei Kilometer langen Gegenanstieg hinauf, den nun wirklich keiner mehr gebrauchen kann. Auch hier: Zähne zusammenbeißen, keinen Tritt auslassen und weiterfahren. Doch dann ist es wirklich geschafft. Die restliche Abfahrt konnte ich dann wirklich sehr genießen. Und so kam ich dann nach etwas über zehn Stunden – vier Minuten, um genau zu sein – wieder in Sölden an. Das war wirklich ein Erlebnis. Mit meinem viel zu schnellen Tempo am Kühtai und am Brenner habe ich wohl das typisch falsche Ötztaler Pacing hingelegt. Ein Grund mehr, nächstes Jahr wiederzukommen und es besser zu machen. Das Ötztaler-Fieber hat mich gepackt.